Es ist Silvester und auch das "Wiener Journal" denkt über das kommende Jahr nach. Um es grundsätzlich anzugehen, stellen wir die Frage: Was kann man überhaupt von der Zukunft wissen?
Diese Frage ist so grundsätzlich, dass nur noch ein Philosoph helfen kann. Konrad Paul Liessmann, Professor an der Universität Wien, ist zu einer kleinen Nachhilfestunde bereit.
Philosophie bedeutet, wörtlich übersetzt, „Liebe zur Weisheit“. In Wien hat diese schöne, gut zweitausend Jahre alte Beschäftigung ihren Platz in einem wuchtigen Gebäude, nicht weit von der Ringstraße entfernt. Das Neue Institutsgebäude der Universität könnte ein ganz normales Bürogebäude sein, wenn man von der Marmortafel absieht, auf der es heißt: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Und von den studentischen Graffitis im Stiegenhaus, die dieses Thema variieren. In diesem Gebäude treffen wir den Philosophen in einem schlichten Büro. Kein Hokuspokus, kein schummriges Licht, Denken ist eine nüchterne Angelegenheit.
Wir haben einiges mitgebracht, um das Neue Jahr vorzubereiten: Die Anzeige einer Dame, bei der wir hochseriöse Horoskope für beruflichen Erfolg und Liebesglück bekommen könnten, oder die Ankündigung eines Seminars mit einem Zukunftsforscher, der uns angesichts der Finanzkrise gegen gutes Geld die Gewinnstrategien der kommenden Jahre erklären würde. Doch auf die Frage, was er zu alledem denkt, schüttelt Konrad Paul Liessmann nur nachsichtig den Kopf: Gar nichts kann er dazu sagen, überhaupt nichts.
Er legt die mitgebrachten Prospekte weg und fügt hinzu: Bemerkenswert sei an diesem Material am ehesten das hartnäckige Bedürfnis der Menschen, sich die Zukunft gefügig zu machen. „Alle diese prognostischen Verfahren - und das geht für mich von unseriösen Horoskopen in der Tageszeitung bis zu aufwendigen Trendprognosen - alle diese Verfahren drücken vor allem eines aus: Ratlosigkeit, Ratlosigkeit gegenüber den eigenen Bedürfnissen und den eigenen Handlungsmöglichkeiten.“
AUGUSTINUS
In Wahrheit, lernen wir bei dem Privatissimum als Erstes, kann es gar nicht darum gehen, die Zukunft zu erforschen. Die Zukunft bleibt zwangsläufig unbekannt, basta. Sie ist der Horizont, der immer weiter zurückweicht, je mehr man sich darum bemüht, ihm näher zu kommen. Über die Zukunft gibt es in dieser Hinsicht nichts zu sagen.
Wir kommen auf den Römer Aurelius Augustinus zu sprechen, den späteren christlichen Bischof von Hippo. Der hat sich vor 1600 Jahren in seinem Buch „Bekenntnisse“ grundsätzlich mit der Zeit befasst und eine Diagnose gestellt, die unverändert aktuell ist. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren nach Augustinus nur in der Seele des Menschen, sie sind psychologische Größen, „Gestimmtheiten“, wie Liessmann sagt. Der Begriff „Zukunft“ beschreibt in diesem Sinne die Erwartungen und Hoffnungen der Menschen, und die wiederum sind ein Produkt der Gegenwart.
Solche Überlegungen stimmen sehr gut mit psychologischen Befunden der Gegenwart überein. Vor wenigen Jahren haben die Psychologen Daniel Gilbert und Timothy Wilson die Zukunftsvorstellungen der Menschen experimentell untersucht. In der Zeitschrift „Science“ legten sie dar, in welcher Weise die Zukunftsgedanken der untersuchten Personen frühere Erfahrungen abbildeten, und analysieren im Detail die Umformungen und Verzerrungen, die bei diesen Projektionen von Vergangenem auf die Zukunft auftreten.
ORAKELPRIESTER
Selbstverständlich hat es bereits in den Tagen des Augustinus Wahrsager und Orakelpriester gegeben. Es gab auch die großen Prophezeiungen eines kommenden Weltuntergangs der christlich-jüdischen Tradition, die die Menschen über Jahrhunderte beschäftigt haben. Überraschend findet der Philosoph Liessmann jedoch, dass auch der moderne Mensch, so aufgeklärt er sich geben mag, immer noch der archaischen Vorstellung anhängt, es gäbe eine Gesetzmäßigkeit, von der die Zukunft abhinge.
Das sei eine Haltung, die die alten Orakelpriester mit den modernen Zukunftsforschern gemeinsam hätten, sagt er. Die Vorstellung von einer Gesetzmäßigkeit, die man bloß erkennen müsste, um die Zukunft in den Griff zu bekommen, enthält, wie der Philosoph anmerkt, eine alte Paradoxie. Auf der einen Seite soll der vermeintliche Blick in die Zukunft das eigene Handeln bestärken, auf der anderen Seite steckt hinter dem Wunsch, in die Zukunft zu blicken, die fatalistische Idee von zwangsläufigen Ereignissen, die mit Notwendigkeit eintreten.
Ein typisches Phänomen unsrer Zeit sieht Liessmann jedoch in dem besonders ausgeprägten Wunsch nach Beratung, der hinter allen Arten von Zukunftsdeutungen steckt. Diese Gier nach Beratung ergibt sich für ihn daraus, dass der Einzelne aus den stabilen Zusammenhängen früherer Zeiten herausgetreten ist. Womit das sichere Wissen für richtig und falsch verloren geht. „Es ist etwas anderes, wenn ich mich in meinem Handeln immer abgesichert weiß, durch eine Institution, durch den Staat, durch eine Gemeinschaft, durch ein heiliges Buch. Oder ob ich für jede Entscheidung eine neue Rechtfertigung brauche. Deswegen floriert das Beratungsgeschäft von der Astrologie bis zur Politikberatung in unseren Tagen.“
Daran wird für den Philosophen auch der eigentliche Zweck aller Prognosen deutlich. Sie sagen nicht etwas über die Zukunft aus, sondern geben Handlungsanweisungen für die Gegenwart. „Da dem Trendforscher die Zukunft natürlich genauso verschlossen ist wie jedem anderen Sterblichen auch“, sagt Liessmann, „prognostiziert er jene Trends, die sich seinem Weltbild nach durchsetzen sollen.“ Typisch ist es auch, fügt er hinzu, dass keine der technischen Innovationen, die unser Leben nachhaltig verändert haben, prognostiziert worden sind: Weder der Verbrennungsmotor und das Auto, noch der Computer, noch das Mobiltelefon, noch das Internet.
LOB DER GEGENWART
Aber ist es nicht grausam, uns durchschnittlichen Menschen die Hoffnung auf einen Blick in die Zukunft mit nüchternen Verstandesargumenten zunichte zu machen? Über diese Frage kann der Professor nur den Kopf schütteln. Was soll daran grausam sein? Er kann sich keinen Menschen vorstellen, der zum Beispiel genau den Zeitpunkt und die Umstände seines Todes kennen möchte. Im Gegenteil. Um das Leben zu bewältigen, brauche der Mensch eine gewisse Blindheit gegenüber der Zukunft, versichert Liessmann.
Um Missverständnissen vorzubeugen, weist er noch auf den Unterschied zwischen Planung und Prognose hin: Wenn zum Beispiel die zuständige Behörde eine Vorstellung davon entwickelt, wie eine Stadt in zehn Jahren aussehen soll und entsprechende Maßnahmen setzt, dann ist das etwas ganz anderes als eine Prognose. Solche Maßnahmen werden aus einem gegenwärtigen Befund abgeleitet. Wie die Stadt in zehn Jahren tatsächlich aussehen wird, kann deswegen trotzdem niemand sagen.
Die Zukunft, sagt er, ist ein Resultat des Handelns der Menschen. Sie ist deswegen nicht vorhersagbar, weil die Folgen dieses Handelns nicht vorhersehbar sind. Die Empfehlung, die er uns für das kommende Jahr mit auf den Weg gibt, lautet: Sich auf die Gegenwart einlassen. Auf das Hier und Jetzt. Und er fügt mit beruhigendem Unterton hinzu: „Das meiste von dem, was Menschen von der Zukunft erhofft oder befürchtet haben, hat sich nicht erfüllt.“
Das ist halt der Vorteil der Philosophen: Aus der Perspektive von ein paar tausend Jahren kann sich eine wohltuende Gelassenheit ergeben.
ZU PERSON: Konrad Paul Liessmann, geboren 1953 in Villach, ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien und Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaften. Seit 1996 Leiter des „Philosophicum Lech“. 2006 „Wissenschaftler des Jahres“.
PUBLIKATIONEN (UNTER ANDEREM):
Zukunft kommt! Über säkularisierte Heilserwartungen und ihre Enttäuschung. Bibliothek der Unruhe und des Bewahrens, Band 13. Verlag Styria, 2007 Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Verlag Zsolnay, 2006. Schönheit. UTB/ Facultas Verlag, 2009.
Foto: © Andreas Pessenlehner Erschienen: Wiener Journal, 2. Jänner 2010
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