top of page

Das Messer, die Frau, der Arzt


Was heißt schon normal? Wenn es um psychische Gesundheit geht, dann sind die Grenzen zwischen dem, was als normal gilt, und der ernsthaften Erkrankung fließend. "Wir bewegen uns da auf einem Kontinuum", sagt der Psychiater Nikolas Klein.


Wenn da nur nicht die Messer wären. Herr Hubert ist ein unauffälliger Mann in den mittleren Jahren, Büroangestellter, verheiratet, Vater von zwei Kindern. Ganz und gar unauffällig. Trotzdem ist da die Sache mit den Messern. Eine schwierige Sache. Beim Anblick von Messern oder Scheren oder ähnlich gefährlichen Gegenständen verfolgt ihn nämlich zwanghaft der Gedanke, mit diesen Gegenständen seiner Frau etwas anzutun, ein quälender Gedanke, unter dem Herr Hubert leidet, gegen den er aber nichts ausrichten kann. Der Gedanke verfolgt ihn und ist stärker als jede Willensentscheidung.


DIE HEIMLICHE KRANKHEIT

"Zwangsstörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen", sagt Psychiater Nikolas Klein. Wissenschaftlich gesprochen liegt nach Zahlen aus Deutschland die 1-Jahres-Prävalenz, also die Häufigkeit der Personen, die innerhalb eines Jahres an einer bestimmten Erkrankung leiden, bei 3,8 Prozent. Zwangsstörungen sind somit die vierthäufigste psychische Erkrankung. "Außerdem", fügt Klein hinzu, "ist die Zwangsstörung eine heimliche Erkrankung. Die Betroffenen bringen oft über Jahre eine ungeheure Energie auf, um neben ihren Zwängen ein normales Leben fortzusetzen und mit ihrem Beruf und ihrem sozialen Leben zurechtzukommen. Zwischen dem ersten Auftreten der Symptome und dem Beginn der Behandlung vergehen durchschnittlich elf Jahre."


Wir sitzen uns in seiner Ordination in diesen unendlich bequemen Stühlen gegenüber, die sich an den Körper anschmiegen. Wenn man sich auf einer solchen Sitzgelegenheit niederlässt, fühlt man sich augenblicklich entspannter, weil schon der Stuhl so einschmeichelnd bequem ist. In diesem Rahmen verliert das Gespräch über psychiatrische Erkrankungen seinen Schrecken, und man kann ihren Verlauf und ihre Symptome anhand von modellhaften Figuren wie jener von Herrn Hubert besprechen, weil der Arzt natürlich nicht über konkrete Krankengeschichten sprechen kann.


Klein fährt fort: "Zwangsgedanken werden in aller Regel nicht in die Tat umgesetzt." Und man versteht sofort, wie viel Erleichterung es einem Patienten wie Herrn Hubert bringt, wenn ihm diese Tatsache mit dem beruhigenden Ton der ärztlichen Autorität mitgeteilt wird. Immerhin ist er mit seiner Frau seit zwanzig Jahren verheiratet. Dass er mit den quälenden Gedanken zurechtkommt, verdankt er sowohl Medikamenten, die den Serotoninspiegel in seinem Gehirn heben, als auch einer psychotherapeutischen Behandlung.


So also kann eine psychische Krankheit aussehen, ganz unauffällig für die Umgebung, ohne nach außen erkennbaren Unterschied zu dem, was als normal gilt. Zwangsstörungen, um bei dem Beispiel zu bleiben, sind sehr viel weiter verbreitet, als man gemeinhin ahnt, vermutlich auch deswegen, weil die Betroffenen alles tun, um ihr Leiden zu verbergen. Dabei geht es ja um mehr als um eine ausgeprägte Pedanterie beim Aufräumen. Um Mütter zum Beispiel, die wie Herr Hubert beim Anblick von Messern und anderen scharfen Gegenständen von dem Gedanken gequält werden, damit ihre Kinder zu attackieren. Mit wem sollten sie darüber sprechen? Es ist gar nicht verwunderlich, dass sich so manche von ihnen in Tränen auflöst, wenn sie sich beim Arzt zum ersten Mal öffnen kann. Und dann auch noch erfährt, dass für das Kind keine Gefahr besteht, weil Zwangsgedanken eben niemals Taten folgen.


ÜBERALL KAMERAS

Etwas anders gelagert ist da ein Fall wie der von Frau Anna, einer Büroangestellten, bei der sich zunehmend der Eindruck verstärkt, dass sie von ihren Arbeitskollegen abgelehnt wird. Zunächst sieht alles aus wie ein Fall von Mobbing, "und darauf kann man leicht reinfallen", fügt Klein hinzu. Erst nähere Recherchen ergeben, dass Frau Anna auch davon überzeugt ist, dass in ihrer Wohnung Kameras versteckt sind, mit deren Hilfe sie beobachtet wird. Und als sie beim Durchsuchen der Wohnung keine Kameras finden kann, zeigt diese Tatsache nur, dass die Geheimdienstleute, wer immer sie auch sein mögen, schlau genug waren, die Beweisstücke rechtzeitig zu entfernen. Aber die Beobachter sind da, denn nach wie vor wartet jeden Tag eine Limousine vor dem Haus, wenn Frau Anna zur Arbeit geht.


"Wahrscheinlich", fügt Nikolas Klein hinzu, "ist für sie auch der Psychiater suspekt." Auch Patienten, die wie Frau Anna unter Schizophrenie leiden, entwickeln ein großes Geschick, wenn es darum geht, die Symptome ihrer Krankheit zu verbergen, und oft sind es die Angehörigen, die sie nötigen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Arzt kann ihren Zustand in vielen Fällen mit Neuroleptika verbessern, Medikamenten, die beruhigen und eine antipsychotische Wirkung entfalten. "Nach ein oder zwei Jahren", ergänzt Klein, "kann man dann versuchen, die Medikamente abzusetzen." Ohne Neuroleptika liege die Rückfallquote bei sechzig Prozent.


Aber wo ist der Punkt, der von einer normalen Existenz mit ein paar harmlosen Neurosen in die Krankheit führt? Kann man wie bei vielen körperlichen Erkrankungen eine Ursache benennen? ñ Nikolas Klein schüttelt den Kopf. "Im Lehrbuch gibt es den Hinweis auf biologische, psychische und soziale Faktoren." Sinnvoll erscheint am ehesten ein Gedanke, den man mit dem Begriff Vulnerabilitätskonzept zusammenfassen kann, von "Vulnerabilität", also "Verwundbarkeit".


GEHEIME BOTSCHAFTEN

Demzufolge gibt es für jeden Menschen eine Schwelle der Belastbarkeit, bis zu der das psychische System mit Stress fertig wird. Manche haben vielleicht eine geringere Toleranzschwelle. "Aber", fügt Klein hinzu, "jeder Mensch kann psychotisch werden, durch systematischen Schlafentzug, durch LSD oder Kokain, durch Krieg, durch Folter."


Im Fall der Schizophrenie gibt es allerdings gute Behandlungsmöglichkeiten, auch wenn natürlich die Medikamente Nebenwirkungen haben. "Manche dämpfen die Gefühle, können zu Gewichtszunahme führen oder die Sexualität einschränken." Oft tritt Schizophrenie im Alter zwischen 16 und 18 Jahren zum ersten Mal auf, auch wenn die Symptome nicht immer richtig gedeutet werden. Aber der Schüler zum Beispiel, dem eine Stimme befahl, unterwegs alle Autokennzeichen und Straßennamen sorgsam zu studieren, um die an ihn gerichteten geheimen Botschaften zu erkennen, dieser Schüler vertraute sich seiner Mutter an, die dann die richtigen Schritte setzte. Inzwischen hat er einen akademischen Grad und kann normal arbeiten.


"Das heißt schon etwas", sagt Klein anerkennend, "mit Schizophrenie ein Studium abschließen." Ein Punkt, an den die meisten Menschen noch nie einen Gedanken verschwendet haben: Wer unter einer solchen psychischen Krankheit leidet, hat enorme Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Deswegen ist das erste Alarmzeichen bei der jugendlichen Schizophrenie das schroffe Abfallen der schulischen Leistungen. Wie kann sich auch jemand, der, um ein großes Unglück zu verhindern, alle Autokennzeichen sorgfältig studieren muss, auf den Schulstoff konzentrieren?


DER SPIELVERDERBER

Die Welt der psychischen Krankheiten ist häufig ganz dicht an der alltäglichen Welt angesiedelt und der Übergang von der einen in die andere Sphäre kann ganz unauffällig geschehen. Wie bei Frau Elvira, die in manischen Phasen zunächst nur gereizt wurde, und Streit mit Mann und Kindern suchte. Später dann war sie allerdings in ihrem Furor zum Beispiel auch in der Lage, den Fernsehapparat aus dem Fenster zu werfen, womit sie natürlich die Grenze überschritt, die amtlich "Fremdgefährdung" genannt wird. Die Folgen waren Polizeieinsatz und Unterbringung in einer Klinik. Inzwischen, nach vielen Jahren, hat Frau Elvira mit ihrer Krankheit zurechtzukommen gelernt, auch wenn ihre Familie daran zerbrach und sie alleine lebt. Doch ist es inzwischen so, dass die Menschen, die ihr nahe stehen, die Symptome kennen, mit denen sich eine manische Phase ankündigt, und sich darum kümmern, dass sie rechtzeitig mit stabilisierenden Medikamenten behandelt wird. Für die meisten Außenstehenden ist sie eine unauffällige Frau, die nicht im Geringsten krank wirkt. Normal eben. Nur sie und ihre Angehörigen wissen über die Grenzen am Rande des Normalen Bescheid, die sie schon überschritten hat.


Manisch depressive Menschen haben vor allem in ihrer manischen Phase große Schwierigkeiten, ihre Höhenflüge als Symptome einer Krankheit zu sehen. "Der Psychiater wäre da nur ein Spielverderber", sagt Klein. Zum Beispiel für den Geschäftsmann, der absurde Geschäfte abschließt und nebenbei auch noch auf Kredit zwei Luxuslimousinen kauft. Erst der Absturz in die depressive Phase, der unweigerlich folgt, bringt dann das ganze Ausmaß der Katastrophe ans Licht und vielleicht ein Gefühl von Krankheit, die einer Behandlung bedarf. "Solche Kreditverträge", ergänzt der Psychiater, "kann man übrigens in vielen Fällen anfechten. Menschen mit schwerer Manie sind nicht geschäftsfähig."


Doch in der manischen Phase wollen viele der Betroffenen nichts von Krankheit hören, brauchen kaum Schlaf und können Unglaubliches leisten. In gewisser Weise passen viele von ihnen wunderbar in eine auf Leistung ausgerichtete Gesellschaft. Wie jene Studentin, die in ihren manischen Phasen eine Gedankenwelt der wahren Liebe und Herzensgüte entwickelt hat und zur Überzeugung kam, mit ihrer Liebe die ganze Welt zu überströmen. Sie konnte trotz aller depressiven Abstürze ihr Studium abschließen und führt mittlerweile ein ganz normales Leben. "Das ist das Großartige an meiner Arbeit", sagt der Psychiater. "Ich kann den Menschen beim Wachsen zusehen. Die meisten verlassen diesen Raum gestärkt und kommen danach wesentlich besser mit dem Leben zurecht."



INFORMATION - ZAHLEN

Die Österreichische Sozialversicherung schätzte in einer Studie aus dem Jahr 2012, dass rund 900.000 Österreicher und Österreicherinnen innerhalb eines Jahres das Gesundheitssystem wegen psychischer Erkrankungen in Anspruch nahmen.


Diese Zahl wurde aus Medikamenten- und Krankenstandsdaten, stationären Aufenthalten, ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlungen abgeleitet. Die Zahl der Betroffenen sei stark steigend, heißt es, um rund zwölf Prozent innerhalb von drei Jahren.


Von Christian Hoffmann Foto: © Christoph Liebentritt Printausgabe des "Wiener Journal" von 19. Mai 2017

bottom of page